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Aufbruch in Armenien: Reminiszenzen eines Diplomaten

Updated: Jul 14, 2020

Wie in einem Münchner Garten transnationale Geschichte erlebt wurde

Olymp, 1911: Der Ingenieur aus Jena Edwart Richter begab sich auf eine Studienreise durch das damals noch unter osmanischer Herrschaft stehende Nordgriechenland und wurde trotz Personenschutz überfallen und am Olymp, der als „das berüchtigtste Räubernest Europas“ (Richter, 1911)[1] galt, vom Klephtenwesen entführt. Die Entführung organisierte u.a. Leonidas Chrysanthopoulos; ein talentierter Diplomat, dessen Vorfahren sogar in der Filiki Eteria[2] − die im 19. Jahrhundert die Befreiung Griechenlands von den Osmanen erwirkte − aktiv waren. Richters Freilassung wurde auf die politische Ebene übertragen und sorgte seinerzeit für internationales Aufsehen sowie Turbulenzen in den deutsch-türkischen Beziehungen. Es wurde Druck ausgeübt auf den Verbündeten der Osmanen; letztere wurden kompromittiert, da sie ihre Gebiete und Waffenbrüder nicht beschützen konnten. Edwart Richter wurde während seiner Gefangenschaft im Geist der Philoxenie gut behandelt und Deutschland bezahlte schließlich das hohe Lösegeld, mit dessen Hilfe der Eintritt Griechenlands in den Balkankrieg (1912) quasi finanziert wurde.

Richter, Edwart (1911). Meine Erlebnisse in der Gefangenschaft am Olymp: nebst Schilderung der Entwicklung des Klephtenwesens. Leipzig: Oskar Born

Jerewan, 1993: Leonidas Chrysanthopoulos, der gleichnamige Enkel des o.g. erfinderischen Denkers und strategisch handelnden Botschafters, führt die langjährige Familientradition fort und arbeitet während des blutigen Bergkarabach Krieges (1992-1994) und des latenten russischen Bürgerkrieges (1993) als Diplomat im neugegründeten, unabhängigen Armenien. „Exil in Jerewan“ schrieb die Presse zu dieser Stationierung. Für Armeniens ersten griechischen Botschafter bedeutete dieser Posten jedoch die Gelegenheit, eine Freundschaft zu erneuern, die so alt ist wie die Geschichte beider Völker.

München, 2019: Diese Geschichte sowie seine Erlebnisse in einem Land, das sich damals in einem desolaten Zustand befand und er den eiskalten Winter isoliert hinter den geschlossenen türkischen Grenzen ohne Elektrizität überleben musste, erzählte der Botschafter ad honorem dem Münchner Publikum am Pfingstsonntag. Vorgestellt wurde unter dem Motto "Literatur & Natur: Erleben Sie Armenien!" sein Buch "Aufbruch in Armenien: Chronik eines Diplomaten" (Frankfurt: Größenwahn Verlag, 2012) im Garten des Literarischen Café in der Laimer Aindorferstraße, das kein Gastronomieort ist, sondern als ein Ort intellektueller Vielfalt dient. Der Name soll an die legendären Cafés der vorigen Jahrhunderte erinnern, die als Kultursalons galten und zum Treffpunkt für Literaten und Intellektuelle wurden, wie etwa das Café Loumidis in Athen, das Antico Caffè Greco in Rom oder das Caffè Le Giubbe Rosse in Florenz.

Chrysanthopoulos, Leonidas (2012). Aufbruch in Armenien: Chronik eines Diplomaten. Frankfurt: Größenwahn Verlag

Die Latte wurde also sehr hoch gelegt. Haben die Initiatoren einen Hang zur Übertreibung, oder haben sie tatsächlich etwas auf die Beine gestellt, auf das aufgeschlossene Münchner stolz sein können? Hinter der Idee stehen Johanna Panagiotou alias Victoria Mali und Dr. med. Thanasis Bagatzounis. Victoria ist Berichterstatterin mit internationaler Ausrichtung. Als teilnehmende Beobachterin verfolgt sie einen kulturanthropologischen Ansatz vor Ort und legt großen Wert auf die Geschichte der Völker, über die sie recherchiert. Thanasis ist Onkologe und ehemaliger Besitzer der Hamburger Galerie für politische Kunst Papenhuder57. Gemeinsam haben sie das Projekt ETHNO News, Health & Arts ins Leben gerufen, unter dessen Dach diese außergewöhnlichen Matinées stattfinden.

Im Garten des Literarischen Café in der Laimer Aindorferstraße, das kein Gastronomieort ist, sondern als ein Ort intellektueller Vielfalt dient

Die Initiative unterstützen seit ihrer Entstehung zwei wichtige Persönlichkeiten der griechischen Gemeinde in München: Erzpriester Apostolos Malamoussis und Menschenrechtlerin Anastasia Dick, die sich beide unermüdlich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen und dafür ausgezeichnet wurden. Gewonnen konnte man für diesen vielversprechenden Abend auch den Professor des Amerika Institutes der LMU, den Historiker und Theologen Prof. Dr. Michael Hochgeschwender, der das neugierige Publikum in die Zeit des Ausklangs des Kalten Krieges zurückversetzte und den historischen Kontext aus einer transnationalen Perspektive beleuchtete. Zur Erinnerung: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konkurrierten Russland, die EU und die USA um die führende Rolle im Kaukasus. Was bedeutete dies für Armenien und was ist so faszinierend bei der Entstehung eines neuen Staates, dessen Volk über eine langjährige Tradition verfügt?

Der renommierte Historiker Prof. Dr. Michael Hochgeschwender: Einführung in den Kalten Krieg aus einer transnationalen Perspektive

„Wir haben es hier mit der klassischen Situation des Zusammenbruchs eines Imperiums zu tun; vergleichbar etwa mit dem Ende der Habsburger Monarchie, des Osmanischen Reiches, oder auch des britischen und französischen Kolonialreiches nach dem Zweiten Weltkrieg“, so der Professor. Laut Michael Hochgeschwender lassen sich die strukturellen Kernprobleme folgendermaßen zusammenfassen: Erstens, wurden während der imperialen Herrschaft bestimmte vorimperiale Konflikte eingefroren, die in der schwachen Phase des Imperiums und mit der Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan wieder aufbrachen und intensiviert wurden, wie etwa durch willkürliche Grenzziehungen, die bereits in der imperialen Zeit stattfanden. Zweitens, gab es mangelnde Vorbereitung von westlicher Seite und spürbare Folgen der vorherigen Umbrüche in der islamischen Welt (Iranische Revolution 1978), deren Konfliktkonstellation auf Zentralasien und den Kaukasus Auswirkung hatte. In diesem Rahmen versuchten Iran und Türkei an Einfluss zu gewinnen. Drittens, welche sollte die Funktionselite sein? Und hier stand man vor dem Dilemma: "Greifen wir auf diejenigen zurück, die in sowjetischer Zeit das Sagen hatten, oder versuchen wir eine neue Elite heranzuziehen? Und wo sollen wir diese herbekommen?“. Viertens, schaffen imperiale Zusammenhänge ökonomische Zusammenhänge. Mit dem Zusammenbruch des Imperiums gingen die klassischen Export- und Binnenwirtschaftlichen Bereiche verloren; es kam zum Versuch eines Neuaufbaus ökonomischer Strukturen im Binnen- und Außenhandel. Hier fanden auch eine Reihe US-Eingriffen statt, die sogenannte Fly-in Fly-Out Boys, die den Ländern vorschreiben wollen, wie sie sich zu organisieren haben − etwa neoliberal. Fünftens, als Vorfeld gegen den Neuaufbau einer möglichen russischen Macht, wurde eine militärische Präsenz der USA in Armenien gerechtfertigt; oft unter den lockeren Deckmantel des „War on Terror“.

Armenisches Mädchen tanzt Nazani

Nach diesem Kalten-Krieg Crashkurs des renommierten Historikers durften die Anwesenden die herrliche Stimme der Sopranistin Anna Ghazaryan bewundern. Während die Kirchensängerin den Psalm „ Mein Herz schlägt für Dich, Herr!“ auf Armenisch sang und das Publikum fasziniert zuhörte, begleitete sie Erzpriester Malamoussis mit einer leuchtenden Kerze als Symbol des gemeinsamen Glaubens und der ökumenischen Verbundenheit. Anschließend tanzte Melina Hubach (erster Preis im Ballettwettbewerb 2017 in München) den bezaubernden armenischen Tanz Nazani. Diesen Teil organisierte Mitveranstalterin Ani Telian als Repräsentantin des Vereins Armenische Landsmannschaft in Bayern e.V. Die Hellenische Republik vertrat Generalkonsulin Panagiota Konstantinopoulou, den Münchner Stadtrat Çetin Oraner.

Für Eva Griva (rechts) war es nicht leicht, aus der Distanz der Literaturkritikerin zu erzählen − da sie auch Übersetzerin von Augenzeugenberichten, die die Steinigung von armenischen Kindern in den Schluchten des Pontos-Gebirges erleben mussten − ist.

Ihren Höhepunkt erreichte die Veranstaltung während der anschließenden Buchvorstellung zu den Erlebnissen des Botschafters Chrysanthopoulos im neugegründeten Armenien, der schon bei seiner Ankunft mit einer Reihe von Problemen konfrontiert wurde. „Doch hinter dem hartgesottenen Diplomaten erleben wir einen sensiblen Menschen, der sich treffsicher in die Gedanken- und Gefühlswelt der Armenier hineinversetzt und sich für den Aufbau des Landes und den Erhalt seines Kulturerbes unermüdlich einbringt“, betonte Germanistin und Literaturwissenschaftlerin Eva Griva, die diese Literaturreihe seit Beginn (2011) leitet. Die Germanistin las aus dem fesselnden Augenzeugenbericht „Aufbruch in Armenien“[3], den Chrysanthopoulos noch während er im diplomatischen Dienst aktiv war, schrieb. Für sie war es nicht leicht, aus der Distanz der Literaturkritikerin zu erzählen − da sie auch Übersetzerin von Augenzeugenberichten, die die Steinigung von armenischen Kindern in den Schluchten des Pontos-Gebirges erleben mussten − ist. Es gelang ihr, jedoch, uns in eine bewegende Reise nach Jerewan des Jahres 1993 mitzunehmen.

Die andere - menschliche - Seite eines Diplomaten im eiskalten Kaukasus

Dort treffen wir den Botschafter, wie er zitternd die Bruchlandung des Flugzeuges in Jerewan bei dichtem Schneetreiben erlebt, oder wie er mit einem Kaminofen und in Winterkleidung für sein Personal kocht. Wir verfolgen seine Gespräche mit den dort lebenden Griechen und Kurden, mit dem Präsidenten Levon Hakobi Ter-Petrosyanseine und erfahren über seine humanitären Aktionen und Errungenschaften (Ankunft der ersten Investoren aus Griechenland, die Aufnahme der direkten Flugverbindung Athen-Jerewan etc.). Dies und vieles mehr, was der charismatische Diplomat dort erlebte, hat er mit einem internationalen Publikum an diesen unvergesslichen Pfingstsonntag großzügig geteilt. Es nahmen Deutsche, Armenier, Assyrier, Kurden, Griechen, Türken, Afrikaner, Iraner, Iraker und Afghanen teil. Darunter der bekannte Autor Jiyar Cîhanferd, der im Nahen Osten verhaftet und gefoltert wurde und durch das PEN-Zentrum nach München kam, oder Sabine Böhlau, die Urenkelin von Helene Böhlau − einer der bedeutendsten Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts.

Unter dem Motto "Literatur & Natur: Erleben Sie Armenien!" vernetzen sich Münchens Literaten und Intellektuelle in Laim

Diese internationale Matinée, die am Pfingstsonntag in vier Sprachen (deutsch, englisch, griechisch, armenisch) und mit freundlicher Unterstützung des Kulturreferates München stattfand, hatte einen symbolischen Charakter und sollte auf das Pfingstwunder erinnern, wie es Lukas im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte beschreibt. Und wie die Apostel vom Heiligen Geist erfüllt die Gabe der Xenoglossie erhielten und mit Fremden in allen Sprachen problemfrei kommunizierten, so wird das Münchner Literarische Café nach diesem Erfolg weiterhin kosmopolitische Autoren einladen und in der gemeinsamen Sprache der Literatur Brücken zwischen aufgeschlossenen Menschen dieser Welt bauen.

Melina Hubach, Anna Ghazaryan, Ani Telian, Gülistan Tolay, Leonidas Chrysanthopoulos, Apostolos Malamoussis, Victoria Mali, Eva Griva, Çetin Oraner

Text: Victoria Mali / Fotos: © Rawand Jawad, Ethno News by Jopa  

[1] Richter, Edwart (1911). Meine Erlebnisse in der Gefangenschaft am Olymp: nebst Schilderung der Entwicklung des Klephtenwesens. Leipzig: Oskar Born


[2] Geheimbund griechischer Patrioten und Philhellenen


[3] Originaltitel: Chrysanthopoulos, Leonidas (2002). Caucasus Chronicles, Nation-Building and Diplomacy in Armenia 1993-1994. Princeton, NJ: Gomidas Institute Books


 
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